Kapitel 12. Exilsprachen: Über die jüdischen Sprachen

Über Jahrhunderte, von der späten klassischen Zeit bis ins frühe Mittelalter, sprachen europäische Juden die Sprachen der christlichen oder muslimischen Mehrheiten, inmitten derer sie lebten. Das heißt nicht, dass die Sprache der Juden ganz mit der der Nichtjuden übereinstimmte. Zum Beispiel hatten die christlichen und muslimischen Mehrheiten logischerweise keine eigenen Begriffe für die Konzepte und Utensilien des jüdischen Glaubens und seiner Tradition. Welche Sprache auch immer es war, die sie umgab, die Juden entlehnten diese Begriffe aus dem Hebräischen und Aramäischen, den Sprachen der Thora und des Talmud. Unterschiede zwischen jüdischer und nichtjüdischer Sprechweise entstanden auch durch die weitgehende Isolation jüdischer Gemeinschaften an Orten, wo eine antisemitische Stimmung herrschte. Das Ergebnis war, dass Juden in Europa vielerorts ihre eigenen sprachlichen Varianten entwickelten, wie Judäo-Italienisch, Judäo-Katalanisch, Shuadit (Judäo-Provenzalisch) oder Jevanisch (Judäo-Griechisch).

Viele dieser jüdischen Umgangssprachen sollten in den darauffolgenden Jahrhunderten wieder verschwinden, durch Auswanderung, Assimilation oder Völkermord. Aber drei von ihnen haben ihren Platz unter den Sprachen, die sie umgaben, behaupten können, obwohl Auswanderung, Assimilation und Völkermord auch Teil ihrer Geschichte sind. Diese drei Sprachen sind Karaimisch, Ladino und Jiddisch.

Karaimisch
Die Geschichte der karaimischen Sprache lässt sich bis kurz nach 1390 zurückverfolgen, als der Großfürst Vytautas von Litauen, zu der Zeit ein bedeutender Mächtiger, eine Gruppe von 300–400 jüdischen Familien aus der gerade eroberten Krim ins eigentliche Litauen hatte umsiedeln lassen. Diese Familien waren Teil einer ethnischen Gruppe, der Karäer, heute meist Karaim genannt. Ihre Sprache gehörte zu den Turksprachen und war nah mit dem Krimtatarischen verwandt. Ihre Umsiedlung schnitt sie von ihren karaimischsprachigen Nachbarn ab, aber anstatt sich in ihrer neuen Umgebung der Sprache der jüdischen Bevölkerung ganz anzupassen, pflegten die Karaim ihre eigene, ganz andere Sprache noch lange. Noch im frühen 20. Jahrhundert war sie sehr lebendig, und sogar nach den Schrecken des Holocaust und des Stalinismus gibt es in der litauischen Stadt Trakai immer noch eine kleine Gemeinschaft mit einigen dutzend Sprechern. Außerdem heißt es, dass Karaimisch von ein paar Menschen in der Krim und im ukrainischen Galizien gesprochen wird.

Ladino
Die Geschichte der Sprache Ladino beginnt hundert Jahre nach der Umsiedlung der Karaim auf der anderen Seite Europas. 1492 verbannten die sogenannten Katholischen Könige, Isabella I. und Ferdinand II., alle Juden aus Spanien, die nicht bereit waren, zum Christentum überzutreten. Spanien war nicht das einzige Land, das solche Maßnahmen ergriff: König Edward I. von England hatte etwa 200 Jahre zuvor alle 2.000 Juden seines Landes verwiesen, nachdem er mehrere hundert hatte hinrichten lassen, und etwa 100.000 Juden waren 1396 aus Frankreich vertrieben worden. Verjagt wurden sie also immer komplett, nur die Zahlen waren unterschiedlich: Historiker schätzen, dass etwa eine Viertelmillion Juden Spanien verließen und sich rund ums Mittelmeer ansiedelten. Insbesondere flohen große Gruppen ins ottomanische Reich, die aufstrebende Supermacht des Kontinents, das sie rückhaltlos aufnahm. Tatsächlich war die Behandlung von Juden unter muslimischen Herrschern, wenn auch diskriminierend, weitaus gleichberechtigter als unter christlichen Machthabern.

Die Sprache, die die spanischen Juden mitbrachten, war anfangs mit dem christlichen Spanisch nah verwandt, in den darauffolgenden Jahrhunderten entwickelten sich die beiden Varianten jedoch ziemlich unterschiedlich. Ladino, wie Judäo-Spanisch oft genannt wird, hat noch diverse Merkmale aus dem 15. Jahrhundert beibehalten, die das moderne Spanisch mittlerweile verloren hat: Es unterscheidet zum Beispiel zwischen dem ›b‹- und dem ›v‹-Klang, und es verwendet so und sos für ›ich bin‹ und ›du bist‹ anstatt soy und eres. Auf der anderen Seite wurde Judäo-Spanisch von seinen neuen Sprachnachbarn wie Türkisch und Serbokroatisch beeinflusst, vor allem, was den Wortschatz angeht. Aber erstaunlicherweise können Spanier Judäo-Spanisch noch immer ganz gut verstehen. Nicht, dass sie damit rechnen können, auf den Straßen Madrids Ladino zu hören, denn die meisten seiner Sprecher leben in Istanbul oder Israel.

Jiddisch
Die dritte jüdische Gruppe mit einer Sprache, die sich von der ihrer Umgebung deutlich unterschied, hatte ihre unauffälligen Anfänge im Mittelalter und entwickelte sich zur größten jüdischen Bevölkerung aller Zeiten, weltweit. Sie nannten sich die Aschkenasim, und ihre Sprache war Jiddisch (abgeleitet vom deutschen Wort ›jüdisch‹). Jiddisch kam irgendwann vor 1250 auf (genauer kann es leider keiner sagen), unter Juden, die das deutsche Gebiet wahrscheinlich vom nördlichen Frankreich und Italien aus erreicht hatten. Sie übernahmen Deutsch als Sprache, behielten dabei aber einige romanische Vokabeln und fügten die üblichen hebräischen und aramäischen Elemente hinzu. In den Jahrhunderten, die folgten, verlegte sich das Zentrum der aschkenasischen Juden von Deutschland, wo die Verfolgung an der Tagesordnung war, nach Polen, das damals einer der seltenen Zufluchtsorte für religiöse Toleranz in der christlichen Welt war. Kleinere Gruppen zogen in einen anderen sicheren Hafen, in die niederländische Republik. Das polnische Zentrum weitete sich auf ein großes Gebiet Osteuropas aus und umfasste auch Litauen, Weißrussland sowie Teile der Ukraine und Russlands.

Jiddisch wurde nun also genau wie Karaimisch und Ladino inmitten von Mehrheitssprachen gesprochen, die sich sehr von seiner Ursprungssprache unterschieden und es so von seinem alten Vorfahren entfernten. Verschiedene Laute änderten sich systematisch, manche komplizierten Aspekte der deutschen Sprache wurden vereinfacht, und zahlreiche Wörter wurden aus dem Polnischen und anderen slawischen Sprachen übernommen. Jiddisch wuchs und gedieh, und in verschiedenen Gebieten hatte es so viele Sprecher, dass die nichtjüdischen Mehrheitssprachen eine nicht unerhebliche Anzahl von (meist Slang-)Begriffen aus dem Jiddischen übernahmen, so wie es später auch im amerikanischen Englisch geschah. Zum Beispiel hat nicht nur das Deutsche das Wort Chuzpe dem Jiddischen entnommen, sondern auch das Englische (chutzpah), das Polnische (hucpa), das Tschechische (chucpe) und das Niederländische (gotspe) – um nur einige zu nennen.

Heute
Heutige europäische Juden sprechen wieder die Sprachen der nichtjüdischen Mehrheiten, inmitten derer sie leben, weshalb Karaimisch, Ladino und Jiddisch allesamt gefährdet sind. Der Völkermord der Nationalsozialisten ist natürlich der wichtigste Grund für diesen Rückgang, er ist jedoch nicht die einzige Erklärung. Die Juden in Deutschland und den Niederlanden sprachen im 19. Jahrhundert aufgrund ihrer Assimilation immer weniger Jiddisch. Der sowjetische Kommunismus begann nach anfänglicher Unterstützung jüdischer und anderer Minderheitensprachen, ab den 1930er Jahren alle ethnischen Gruppen zu russifizieren. In Israel wurde ein neu belebtes Hebräisch statt Jiddisch als Nationalsprache gewählt. Und Juden, die dem Dritten Reich durch eine Flucht in die USA und in andere Länder entkommen waren, assimilierten sich innerhalb einer einzigen Generation.

Während es von den Sprechern des Karaimischen nur noch einige dutzend und von denen des Ladino noch einige zehntausend gibt, werden die Sprecher des Jiddischen auf 1,5 bis 3 Millionen weltweit geschätzt, von denen die meisten in den USA und Israel leben. Diese Zahl mag beeindruckend klingen, aber Gemeinschaften, in denen Jiddisch die Alltagssprache ist und wo Eltern es selbstverständlich an ihre Kinder weitergeben, sind zwangsläufig selten. (In Europa befinden sich die größten Gemeinschaften in London und Antwerpen.) Die meisten Menschen, die es heute sprechen, sind entweder schon älter, oder sie nutzen es nur als Zweitsprache. Und wenn diese älteren Menschen einmal gestorben sind, wird die Zukunft der Sprache davon abhängen, ob weiterhin jemand Lust hat, sie zu erlernen.